Vom Beruf zum Märchenerzählen

Eingereicht von: Petra

Vorbemerkung: Folgenden Text, fünfeinhalb DIN A 4 Seiten in enger, gehetzt wirkender Handschrift, fand ich in einer alten Ausgabe der Werke Max Webers eingelegt, die ich in einem Antiquariate um ein Geringes erworben hatte. So wie ich ihn vorfand - lediglich unter behutsamer Beseitigung offensichtlicher orthographischer Flüchtigkeitsfehler - , übergebe ich ihn hiermit der interessierten Öffentlichkeit in der Hoffnung, dass er viele Freunde finde. P.H.)

Das Märchenerzählen, man muss es leider sagen, ist heutzutage eine brotlose Kunst. Früher, ja früher, da muss es einmal anders gewesen sein, damals, als Homer mit seinen Gesängen durch die Lande tingelte, doch jene ruhmreichen Tage sind lange dahin, und heute tut man besser daran, beim Ausfüllen von Formularen in der Spalte "Beruf" lieber seinen eigenen Namen einzutragen als das fatale Wort "Märchenerzähler" hinzuschreiben. Finanziell jedenfalls, bei allem Idealismus, sieht es sicher nicht gerade rosig aus, und die Aufträge sind dünn gesät. Meinen letzten hatte ich vor ziemlich genau einem Monat. Man hatte mich weit unter Wert vermittelt, und ich habe die Geschichte dennoch - oder auch gerade deswegen - völlig versiebt. Wenn Sie eine Minute Zeit haben, erzähle ich Ihnen gern, wie sich die Sache zugetragen hat. Sie haben? Danke, das ist lieb. Hören Sie also die Geschichte:

Man hatte mich, einen hochqualifizierten Märchenerzähler, als Babysitter engagiert. Die Bezahlung war gering, und das Publikum, ein ca. sechs Jahre altes Mädchen namens Stephanie, erwies sich anfangs auch als nur mäßig interessiert und wollte lieber einen Krimi sehen. Doch hatte ich sie, unter Aufbietung meiner gesamten Überredungskunst bald ins Bett befördert, ließ mich dann auf der Bettkante nieder und begann meine Erzählung:

"Letztes Jahr im Frühling war ich bei meiner Tante in den Alpen zu Besuch. Das ist ein großes Gebirge, weit im Süden des Landes, und man sagt, dass dort noch heute Wesen leben, die eher ins Reich der Mythen und Sagen gehören als in unsere heutige moderne Zeit."
"Mein Vater ist aus Bayern," sagte Steffi vorwurfsvoll; ich aber fuhr fort:
"Meine Tante war eine kluge, lebenspraktische Frau, die nicht an Trolle oder Wichtelmännchen glaubte, und alle Riesen und Berggeister der Gegend hielten respektvollen Abstand von ihrem Anwesen. So gab sie mir denn auch, als ich mich eines Tages zu einer Bergwanderung aufmachte, keine Anweisungen über den Umgang mit solchen Wesen mit auf den Weg, sondern nur ein Stück Brot und den dringenden Rat, mich nicht von den ausgeschilderten Wanderwegen zu entfernen.
Nun, das Brot war rasch aufgezehrt; und auch der Rat war bald vergessen, als ich am Rande des Weges zwischen losem Schutt und Geröll eine wunderschöne blaue Blume entdeckte."
"Die kenn' ich, das war bestimmt ein Enzian," plärrte Steffi dazwischen. Ich nickte zustimmend.
"Dieser Enzian war so hübsch, dass ich ihn einfach pflücken musste. Ich tat also die wenigen Schritte bis dorthin, wo er stand, und plötzlich gab unter mir der Boden nach, und ich stürzte in einer gewaltigen Lawine aus Stein und Geröll ins Bodenlose. Es wäre aus mit mir gewesen, wäre ich nicht mit meinem Hemd an einer trockenen Baumwurzel hängengeblieben. Unter mir fiel die Wand fast senkrecht ab, und ich blickte in einen Abgrund von gut und gerne hundert Metern Tiefe; der Fels über mir war genauso glatt und fugenlos, sodass an ein Zurückklettern nicht zu denken war. Der einzige Halt weit und breit war diese alte Baumwurzel, an der ich hing und die schon bedrohlich knackte."
"Ui," sagte Steffi.
"In meiner Angst begann ich, laut um Hilfe zu schreien. Doch die nächste menschliche Ansiedlung lag mehrere Kilometer entfernt, und es hörte mich niemand. So hing ich wohl eine halbe Stunde lang an der Baumwurzel und schwebte über dem Nichts, den Tod vor Augen, als ich plötzlich über mir ein Geräusch vernahm. Ich blickte nach oben und sah einen winzigen Kopf, kaum größer als deine Faust, mit einer hübschen roten Zipfelmütze, zu mir hinunterschauen. Ich wusste sofort: Das musste ein Zwerg sein.
'Hallo!' rief ich
'Hallo,' sagte er. 'Warum schreist du denn so laut hier im Gebirge herum?'
Was für eine saublöde Frage, dachte ich, antwortete aber sehr höflich: 'Ich bin abgestürzt. Würdest du bitte so lieb sein und mir ein Seil herunterlassen?'
'Nein,' sagte der Zwerg.
'Warum nicht?' fragte ich. Ich schrie fast.
'Weil du bestimmt ein Goldsucher bist. Wenn ich dich rette, wirst du unsere Berge kaputtmachen.'
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. 'Ich bin kein Goldsucher,' rief ich hinauf. 'Ich bin Märchenerzähler.'
'Was ist denn das?' fragte er. Denk' dir, er wusste es wirklich nicht.
'Kannst du das beweisen?' fragte er, als ich es ihm erklärt hatte.
In diesem Moment gab die Wurzel nach, und eine Handvoll Sand und Kies rieselte mir in den Nacken; aber sie hielt mich noch.
'Wenn du mich hochziehst, erzähle ich die ein Märchen,' versprach ich hastig. Die Erde rieselte immer weiter.
'Nein, jetzt,' forderte er.
'Sieh doch ein...', versuchte ich, doch das Knistern der Wurzel ließ mich abbrechen. In meiner Verzweiflung begann ich: 'Es war einmal ein kleines Mädchen, das war so lieb und gut, dass alle Menschen es von Herzen gern hatten, wenn sie es nur ansahen. Am liebsten aber mochte es die Mutter, und weil sie es so sehr liebte, schenkte sie ihm eines Tages ein rotes Käppchen, das glänzte und funkelte, wenn die Mittagssonne darauf schien, und das kleine Mädchen liebte das Käppchen so sehr, dass es nie wieder etwas anderes auf dem Kopf trug als dieses rote Käppchen, weswegen man das Mädchen bald im ganzen Lande nur noch das Rotkäppchen hieß.'
'Schön,' flüsterte der Zwerg ergriffen.
In diesem Augenblick riß mein Hemd aus, und hätte ich mich nicht mit beiden Händen an die Wurzel geklammert, wäre ich in den Abgrund gestürzt. Die Wurzel senkte sich weiter.
'Zieh mich hoch!' schrie ich.
'Nein,' sagte der Zwerg. 'Erst erzähl zu Ende.'
'Eines Tages sagte die Mutter zu Rotkäppchen: Liebes Kind, deine Großmutter ist schwer erkrankt. Bring ihr doch schnell einen Korb mit Kuchen und Wein vorbei, das wird ihr guttun. Ja, das will ich gern tun, sagte das Rotkäppchen und machte sich auf den Weg zur Großmutter, die in einer kleinen Hütte mitten im Wald wohnte. Hüte dich aber, vom Wege abzugehen, rief ihr die Mutter noch nach, das ist gefährlich. Und das Rotkäppchen versprach, dies wohl zu beherzigen.'
'Ja, vom Wege abzugehn ist gefährlich, vor allem hier in der Gegend,' sinnierte der Zwerg von seinem sicheren Logenplatz aus, während meine Finger zu schmerzen begannen.
'Das Rotkäppchen war noch nicht allzuweit gegangen,' fuhr ich hastig fort, 'als es dem Wolf begegnete, der frug, wohin es ginge, und als das Rotkäppchen ihm arglos Antwort gegeben hatte, sprach er: Was bist du doch für ein garstiges, liebloses Ding, dass du der armen kranken Frau nicht einmal einen Blumenstrauß mitbringen willst. Ja, hast du denn die herrliche Farbenpracht rings um dich herum gar nicht bemerkt, Rotkäppchen? Sicher würde sie sich sehr freuen, wenn du ihr ein paar von den Blumen mitbrächtest.'
'Ha!' rief der Zwerg. 'Dem krummen Hund ist doch nicht zu trauen!' Er stampfte erregt mit dem Fuß auf, so dass sich eine Geröll-Lawine löste, die auf mich niederprasselte.
'Das Rotkäppchen,' schrie ich, 'dankte dem Wolf für den guten Rat und begann eifrig, Blumen zu pflücken. Dabei entfernte es sich weiter und weiter vom Wege, um für die liebe Großmutter die schönsten und buntesten Blumen zu suchen. Der Wolf aber lief so schnell er konnte zum Haus der Großmutter und klopfte dort an. Wer ist da? fragte die alte Frau. Ich bin's, das Rotkäppchen, rief der Wolf mit verstellter Stimme, und als die kranke, gebrechliche Großmutter die Tür öffnete, sprang der Wolf mit einem Satz auf sie los und verschlang sie.'
Oben ertönte ein Schrei, dann war alles still, nur die Wurzel knarrte leise.
'Zwerg?' rief ich. 'Bist du noch da?'
Du lieber Himmel, jetzt war der Zwerg da oben tatsächlich ohnmächtig geworden. Und ich hing immer noch über dem Abgrund und spürte das Herannahen eines Fingerkrampfes. Endlich rührte er sich wieder und sagte mit matter Stimme: 'Erzähl weiter.'
'Wenig später kam das Rotkäppchen zum Haus der Großmutter. Da zog sich der Wolf die Nachthaube der alten Frau über, sprang ins Bett und deckte sich bis zur Nasenspitze zu. Komm nur herein, liebes Kind, rief er mit verstellter Stimme, als das Rotkäppchen an die Tür klopfte. Das Mädchen trat ins Zimmer, betrachtete die im Bett liegende Gestalt und fragte zögernd: Aber Großmutter, warum hast du denn so große Ohren?'
'Gute Frage, sehr gute Frage,' quietschte vergnügt der Zwerg in luftiger Höhe über mir.
'Damit ich dich besser hören kann, greinte der Wolf. Aber Großmutter, warum hast du denn so große Augen? Damit ich dich besser-'
Mit einem entsetzlichen Krachen brach die Wurzel. Ich krallte meine Finger in den Felsen und sah dem Holz nach, wie es in die Tiefe sauste und beim Aufprall in tausend Stücke zerschellte. 'Zieh mich rauf!' schrie ich.
'Erst erzähl zu Ende,' forderte der Zwerg unerbittlich.
'Damit ich dich besser sehen kann, sagte der Wolf. Aber Großmutter, warum hast du ein so entsetzlich großes Maul? Damit ich dich besser - fressen kann, grollte der Wolf, sprang aus dem Bett auf das arme Rotkäppchen zu und verschlang es mit Haut und Haaren.'
'Das hast du absichtlich gemacht,' gurgelte der Zwerg, knüllte seine rote Mütze vor Wut zusammen und warf einen Stein nach mir. Er traf mich über der Augenbraue, eine Ader platzte, und über mein linkes Auge strömte das Blut hinab.
'Warte,' rief ich, 'es geht noch weiter. Hör zu:
'Der Wolf war so satt und vollgefressen, dass er müde wurde, sich wieder ins Bett der Großmutter legte und sofort einschlief. Bald hörte man sein Schnarchen durch den Ganzen Wald schallen, uns es klang wie ein Chor aus sechzig schweren Winterstürmen. Auch der Jäger hörte es, als er gerade am Haus der Großmutter vorbeikam. Das ist nie und nimmer die alte kranke Frau, die dort schnarcht, dachte er bei sich, und da die Tür nur angelehnt war, trat er vorsichtig ins Haus und fand den Wolf, der da lag und schnarchte, vollgefressen wie er war. Hab ich dich endlich, dachte er. Er nahm seine Flinte, legte an und schoß den Wolf tot.'
'Ja, gib's ihm,' jubelte der Zwerg. Da trat ein, was ich schon die ganze Zeit befürchtet hatte: Ich bekam einen Krampf in der rechten Hand. Ich öffnete die Finger und schwebte nun nur noch an der Linken über dem Abgrund.
'Da merkte der Jäger plötzlich, dass sich im Bauch des Wolfs noch etwas bewegte. Er ergriff sein Jagdmesser, und als er den Wolf aufgeschnitten hatte, da sprangen ihm das Rotkäppchen und die Großmutter unversehrt entgegen, denn der Wolf hatte sie in seiner Gier hinuntergeschlungen, ohne zu kauen, und als die Großmutter den Kuchen gegessen und den Wein getrunken hatte, da wurde sie gesund und munter, und alle lebten noch lange glücklich und zufrieden bis an ihr Ende. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.'
'Ist das Märchen jetzt zu Ende?' fragte der Zwerg.
'Ja!' schrie ich.
'Ach, war das schön,' sagte er. 'Ich denke, nach so einer Geschichte läßt sich wunderbar schlafen.'
Ich hörte es oben rascheln, und nur wenige Sekunden später gab er leise Schnarchlaute von sich.
Ich schrie und tobte, doch es nützte nichts. Und dann bekam ich einen Krampf in der linken Hand und spürte, wie sich meine Finger langsam öffneten."

Hier brach ich meine Erzählung ab.

"Wie bist du davongekommen?" fragte Steffi.
Ich sagte leise: "Das erzähle ich dir, wenn ich das nächste Mal auf dich aufpassen soll. Und nun schlaf schön."
Damit deckte ich sie zu und begab mich ins Wohnzimmer, um noch etwas fernzusehen.

Aber die Eltern haben mich nie wieder engagiert. Sie behaupteten, sie hätten ihre Tochter völlig verstört vorgefunden, und um ein Haar hätten sie mich auch noch angezeigt. Tja, und das war die Geschichte meines vorerst letzten Auftrags.
- Aber die Geschichte mit dem Zwerg, wie ging die aus?
- Ja, wenn ich das wüßte. Wissen Sie, das Märchenerzählen ist heute auch nicht mehr das, was es einmal war. Was geben Sie mir, wenn ich für Sie ein Ende erfinde?

 Englische Übersetzung


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