Geschichten von RiesenBist du nicht mein Vater, und bin ich nicht dein Sohn?Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte keinen Vater und keine Mutter mehr. Sein bißchen Erbschaft hatte ein ungetreuer Vormund vertan, und so wanderte der kleine Junge aus und hatte außer seiner Flöte nichts im Sack und nichts in der Tasche und nicht einmal ein Stückchen Brot im Bauch. Er lief lange, lange. Er wanderte durch Wälder und über Wiesen, und als es Abend wurde, wußte er nicht, wo er schlafen sollte.Der kleine Junge kletterte auf einen Berg und blickte sich um, ob nicht doch irgendwo ein Haus oder eine Hütte zu sehen wären. Es war sehr dunkel geworden, und er konnte nichts mehr erkennen. Nach einiger Zeit entdeckte der Junge einen winzigen, schwachen Feuerschein in weiter Ferne. Da nahm er allen Mut zusammen und ging darauf zu. Die Nacht war schon halb vergangen, als er endlich das Licht erreichte. Es war ein großes Feuer. Neben dem Feuer schlief ein Mann, der war so groß, wie nur Riesen groß sein können. Der Junge zögerte eine Weile und wußte nicht, was richtig war. Dann aber kroch er dicht zu dem Riesen, legte sich neben seine Beine und schlief ein. Am nächsten Morgen erwachte der große Mann und war erstaunt, als er den kleinen Jungen dicht neben seinen Beinen entdeckte. "Na, so was", rief er. "Woher kommst du denn?" "Ich bin dein Sohn", erwiderte der Junge. "Du hast mich heute nacht geboren." "Wenn das wahr ist", sagte der Riese, "will ich dich bei mir behalten und ernähren, und du sollst meine Schafe hüten. Überschreite aber niemals die Grenze meines Landes. Du würdest es bereuen." Der Junge führte die Herde auf die Weide und hütete sie dort. Als es Abend wurde, trieb er die Schafe zurück und half dem Riesen beim Melken. Sie richteten sich das Abendbrot und setzten sich ans Feuer. "Wie ist dein Name, Vater?" fragte der Junge. "Morgazea", sagte der Riese. "War es dir nicht einsam, so allein an diesem verlassenen Ort?" "Weißt du nicht, daß auch der Bär niemals aus eigenem Willen tanzt?" "Ja, das ist wahr. Aber warum bist du immer so traurig? Erzähl' mir von deinem Leben, Vater." "Was würde es nützen. Wenn ich dir meine Geschichte erzählte, würdest auch du traurig werden." "Oh, sorg' dich nicht. Ich möchte deine Geschichte hören. Bist du nicht mein Vater, und bin ich nicht dein Sohn?" "Ja, wenn du es wirklich wissen willst, so hör zu: Wie ich dir schon sagte, heiße ich Morgazea, und mein Vater ist ein Kaiser. Ich war auf dem Weg zum Süßen-Milch-See - er liegt nicht weit von hier - und wollte eine der weißen Feen, die dort am See wohnen, heiraten. Aber auf dem Weg dorthin sprangen drei tückische Elfen hinter einem alten Kirschbaum hervor und raubten mir meine Seele. Seither hause ich hier an diesem einsamen Ort, hüte meine Schafe und habe keinen Wunsch mehr. Ich kann nicht mehr lachen und mich an nichts erfreuen. Mir ist alles fad und gleichgültig geworden. Die Elfen sind, so reizend sie aussehen, doch so boshaft, daß sie sich an jedem, der nur einen Schritt in ihr Land setzt, bitter rächen. Daher warnte ich dich, die Grenzen nicht zu überschreiten; leicht könnt dir sonst das gleiche Schicksal widerfahren." "Gut, Vater, ich werde aufpassen", sagte der Junge, und dann streckten sich beide aus und schliefen ein. Beim Sonnenaufgang stand der Junge auf, führte die Herde auf Morgazeas trockenen Weiden und trieb sie in der Abenddämmerung wieder heim. Am dritten Tag aber setzte er sich unter einen Baum in den Schatten und spielte seine Flöte, aber eines der Schafe sprang über die Hecke auf die grüne Blumenwiese im Land der Elfen, und ein zweites und ein drittes folgten ihm. Der Junge war so in sein Flötenspiel vertieft, daß er nichts bemerkte, bis beinahe die halbe Herde im Elfenland weidete. Er sprang auf, stieg flötespielend über die Hecke und wollte die Schafe zurücktreiben, doch plötzlich sah er vor sich drei wunderschöne tanzende Mädchen. Ich muß weiterspielen, dachte der Junge erschrocken und blies so schnell und wild er konnte. Die Mädchen konnten nicht genug davon bekommen und tanzten und tanzten, bis der Abend dämmerte. "Nun laßt mich gehen!" rief er schließlich. "Der arme Morgazea wird halb verhungert sein. Ich werde morgen kommen und wieder spielen." "So geh, Flötenspieler, geh", riefen die Elfen, "aber bedenke, auch wenn du dein Versprechen brichst und nicht wieder kommst, du kannst uns nicht entrinnen!" Morgazea molk die Schafe. Sie haben mehr Milch als sonst, aber der Junge sagte ihm nicht, daß er mit seiner Herde im Land der Elfen gewesen war; denn er wollte den Riesen nicht beunruhigen, und er aß mit großem Hunger sein Abendbrot. Kaum schien das erste Tageslicht, trieb der Junge seine Schafe wieder auf die Elfenwiese. Er setzte seine Flöte an, und schon erschienen die drei Elfenmädchen und tanzten, und sie tanzten, bis der Abend kam. Plötzlich aber ließe der Junge seine Flöte aus den Fingern gleiten und trat wie aus Versehen darauf. Wenn du das Geschrei gehört hättest, das er nun anstimmte, wie er weinte und klagte, sein Hände rang und jammerte, nun hätte er sein Allerliebstes verloren - er hätte auch dir leid getan. Voller Mitleid streichelten und trösteten ihn die Elfen, aber umsonst. "Niemals wieder finde ich so ein Flöte", klagte er, "keine andere Flöte klingt so süß und rein wie meine Flöte. Sie war aus dem Herz eines alten Kirschbaums geschnitten!" "In unserem Garten steht ein alter Kirschbaum", riefen die mitleidigen Elfen. "Komm mit uns, dann kannst du dir eine andere Flöte schnitzen." Sie gingen alle in den Elfengarten, und als sie vor dem alten Kirschbaum standen, erklärte der Junge den Elfen: "Wenn ich ihn mit der Axt schlage, könnte ich sein Herz spalten, und dann wäre das Holz verdorben. Ich will nur einen tiefen Riß in die Rinde schlagen, gerade groß genug, daß ihr eure Finger hineinstecken könnt, dann reiße ich ihn auseinander und beschädige das Herzholz nicht." Die Elfen waren einverstanden und achten an nichts Böses. Sie steckten ihre Finger in den Schnitt, der Junge zog schnell die Axt aus der Spalte, und siehe da - alle ihre Finger steckten fest wie in einem Schraubstock. Umsonst schrien sie vor Schmerzen und versuchten, sich zu befreien. Sie warn gefangen, und der Jüngling blieb trotz allen Bittens und Flehens kalt wie Stein. "Gebt mir Morgazeas Seele wieder!" sagte er ungerührt. "O gut, wenn du sie unbedingt haben willst, sie ist in der Flasche dort auf dem Fensterbrett", sagte die Elfen und hofften, nun wieder freizukommen. Aber sie täuschten sich. "Ihr habt so vielen Menschen ein Leid angetan", sagte der Junge unerbittlich, "nun sollt ihr selbst ein bißchen leiden. Morgen früh werde ich euch wieder befreien." Er ging heimwärts und nahm seine Schafe und die Flasche mit Morgazeas Seele mit. Morgazea stand am Feuer und wartete, und als der Junge näher kam, rief er: "Wo warst du so lange, weißt du ..." "Schau, was ich hier habe", sagte der Junge und erzählte von seinem Abenteuer. Der Riese sprang in die Luft vor Freude. So hoch sprang er, daß die falsche Seele, die die Elfen ihm gegeben hatten, aus seinem Mund flog und seine wahre Seele, die fest verschlossen in der Flasche saß, an ihre Stelle sprang. Nun konnte Morgazea wieder lachen, und er lachte so wild und so laut, daß er ganz außer Atem kam. Als er sich etwas beruhigt hatte, rief er: "Ob du nun wirklich mein Sohn bist oder nicht, ist mir egal. Ich habe meine Seele wider, und nur dir, mein lieber Sohn, hab' ich sie zu verdanken! Ich stehe tief in deiner Schuld, sag mir, was ich dir Gutes tun kann?" "Laß mich für immer dein Sohn sein." Die Nacht verbrachten Morgazea und sein Sohn mit Feiern und Gesang; denn sie waren zu glücklich, um zu schlafen. Als der Tag graute, machten sie sich auf, die Elfen zu befreien. Wie sie nun aber den Garten der Elfen erreichten, riß Morgazea den alten Kirschbaum mit den Wurzeln aus und trug Baum und Elfen auf seinen Schultern davon - bis sie in das Königreichs seines Vaters gelangten. Im Königreich der Riesen freuten sich alle sehr, den verloren geglaubten Morgazea wieder zu sehen. Morgazea aber deutete auf den Jüngling, der ihm mit seiner Schafherde gefolgt war, und sagte: "Dieser hier ist mein Sohn. Er hat mich gerettet." Was mit den drei Elfen geschah, weiß ich nicht. Der Junge aber blieb bei seinem Vater, dem Riesen Morgazea. |